
Die Zwickmühle Europas und der Ukraine:
Die Russen spielen „Schach“ und die Amerikaner „Poker“
Europa und die Ukraine stehen in einem grotesken Dilemma. Während Russland seit Jahrzehnten die klirrend kalte Logik des Schachspiels perfektioniert, dominieren die Vereinigten Staaten mit der trügerischen Unberechenbarkeit eines Pokertischs. Zwischen diesen beiden Spielfeldern taumelt eine europäische Diplomatie, die weder den einen noch den anderen Modus vollständig beherrscht. Der ukrainische Präsident Selenskyj sitzt dabei zwischen den Stühlen, gezwungen, sich gleichzeitig auf die rigid kalkulierte Zermürbung Russlands und das unstete, launische Gezerre der amerikanischen Geopolitik einzulassen.
Russland, mit seiner jahrzehntelangen Präzision im Großen Spiel, handelt nach den Prinzipien eines Karpow oder Kasparow. Kontrolle der Mitte, langfristige Positionierung, unnachgiebige Materialschlachten. Die Annexion der Krim 2014? Ein methodischer Endspielzug, der bereits lange Zeit vorher strategisch vorbereitet wurde¹. Der aktuelle Krieg? Ein positioneller Kraftakt, der darauf setzt, dass der Westen ermüdet, dass überlegene materielle Ressourcen am Ende durch psychologische Zermürbung obsolet werden. Putin ist der große Endspielspieler: jeder Bauer zählt, jeder Zug zielt auf den nächsten Siegpunkt.
Die USA hingegen? Ein Pokerspiel sondergleichen. Es geht nicht um die absolute Kontrolle des Bretts, sondern um Bluff, um taktische Eskalation, um den maximalen Gewinn mit minimalem Einsatz. Stellvertreterkriege, Sanktionsroulette, plötzlich umgedrehte Allianzen: All das ist nicht kalkulierte Schachlogik, sondern die elastische Opportunität eines Spielers, der weiß, dass er nicht immer das beste Blatt braucht, solange er seinen Gegner zur Kapitulation blufft. Wer denkt, dass Washington eine langfristige Strategie verfolgt, irrt. Was heute gilt, kann morgen über Bord geworfen werden, wenn der Einsatz nicht mehr lohnt.
Und Europa? In diesem Szenario ein verwirrter Spieler, der auf einem Schachbrett sitzt und sich wundert, warum alle Karten ziehen. Strategische Langfristigkeit? Fehlanzeige. Taktisches Geschick? Nicht existent. Stattdessen eine Mischung aus moralischer Entrüstung und hektischer Krisendiplomatie, die mal hier, mal da, ein paar Bauern opfert, ohne den eigentlichen Plan zu erkennen.
Selenskyj hat keine Wahl. Er muss in zwei verschiedenen Sphären gleichzeitig agieren. Gegenüber Russland ist es ein existenzieller Schachkampf, in dem jeder falsche Zug mit dem Verlust des Spiels endet. Gegenüber den USA ist es ein Pokerspiel, in dem er seine Karten maximal ausreizen muss, um nicht irgendwann mit einem versteinerten Lächeln aus dem Spiel komplimentiert zu werden. Europa wiederum hat nur eine Option: endlich sowohl die Regeln des Schachspiels zu meistern als auch die subtilen Blufftechniken des Pokers zu erlernen.
Denn wer in dieser Welt nur eine dieser Disziplinen beherrscht, wird früher oder später über den Tisch gezogen oder in einem endlosen Endspiel zermürbt. Es braucht die äußerste Kontrolle über das eigene Brett und gleichzeitig die absolute Durchschaubarkeit der Bluffs des Gegners. Sun Tzu hätte es nicht besser formulieren können: Wisse, wann du einen offenen Kampf führen musst, und wisse, wann du deinem Feind das Bild eines Schlachtfelds vorgaukeln musst, das in Wirklichkeit gar nicht existiert.
Die einzige Möglichkeit für Selenskyj – und für Europa – besteht darin, sich so schnell wie möglich in all diesen Disziplinen zur Weltklasse zu entwickeln: als brillanter Schachstratege, als meisterhafter Pokerspieler und als weitsichtiger, listiger Fürst nach den Lehren von Sun Tzu. Alles andere bedeutet, von erfahreneren Spielern nach Belieben manipuliert zu werden.